Informationen zur Person:
- Lebt seit 1978 in Dresden
- bis 1990 Entwicklungsingenieur in der Mikroelektronik bei ZMD- Dresden
- Alter: 55 Jahre
- Familienstand: unverheiratet und 3 Kinder
- Beruf heute: das was ihm Spaß macht
Portal e.V.: Herr Boltz, hatten Sie sich schon vor Gründung der “Gruppe der 20” an Aktionen im Herbst ’89 beteiligt?
Friedrich Boltz: Ich bin am 7. Oktober bei einer Demonstration mitgelaufen und am 8.Oktober war ich auf der Prager Straße. Vorher war ich bei keiner Demonstration dabei.
Portal e.V.: Planten Sie selbst die Flucht aus der DDR oder hatten Sie Bekannte mit solchen Plänen? Wie standen Sie dazu?
Friedrich Boltz: Ich wollte Veränderung in unserem Land, eine Flucht war für mich kein Thema. Im lockeren Bekanntenkreis und unter den Arbeitskollegen gab es einige, die von einem Besuch in Westdeutschland nicht wieder kamen.
Portal e.V.: Hatten Sie Bekannte, die verhaftet wurden oder hatten Sie Angst, selber verhaftet zu werden?
Friedrich Boltz: Damals gab es eine herrliche Sprachregelung: Die Leute wurden nicht verhaftet, sondern “zugeführt”, also nicht mit einem ordentlichen Haftbefehl. Ich kannte ein paar Leute, die für einige Tage verschwunden waren und dann wieder auftauchten. Am 8. Oktober und Ende Oktober war schon die Angst vorhanden, verhaftet zu werden. Als die „Delegierten“ der Demonstranten mussten wir unsere Personalien aufnehmen lassen.
Portal e.V.: Wie haben Sie die Gründung der “Gruppe der 20” erlebt?
Friedrich Boltz: In der ersten Aufbruchstimmung und auch noch eine Weile danach war die Stimmung sehr stark geprägt von einem Wunsch nach Veränderung in diesem Land. Als ich nicht mehr dabei war, ging es bald nur noch um den bedingungslosen Anschluss an die Bundesrepublik. Die “Gruppe der 20” erhielt ihren Namen erst ungefähr eine Woche nach dem 8. Oktober. Aus der Demonstration heraus hatte die Gruppe zunächst ungefähr 25 Mitglieder, einige blieben aber aus aus den unterschiedlichsten Gründen nach dem ersten Rathausgespräch mit Herrn Berghofer wieder weg. Die Mitglieder hatten sich wirklich spontan aus der Situation am 8. Oktober aus der Demonstration auf der Prager Straße zusammengefunden, die Kapläne Richter und Leuschner übernahmen dabei die Initiative. Ursprünglich war die Gruppe am Abend des 8. Oktobers nur mit zwei Aufgaben betraut: Zum einen sollte sie Forderungen der Demonstranten überbringen und zum anderen direkt am Abend dazu beitragen, dass es nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam.
Portal e.V.: Warum sind einige Mitglieder schon eher ausgeschieden?
Friedrich Boltz: Ich hatte das Gefühl, dass einige Mitglieder mit ihrer persönlichen Vita in Konflikt gekommen sind. Es gab durchaus Ängste, sich gegen die „Staatsorgane“ zu stellen. Namentlich waren ja alle bekannt, so dass es kein Problem darstellte, einige von uns wegzufangen. Bei allen hatte sich viel Frust aufgestaut, aber es schien doch sehr zweifelhaft, ob sich etwas ändern lässt. Wie instabil das ganze System der DDR war, haben wir wohl nicht richtig wahrgenommen.
Portal e.V.: Warum wechselte Kaplan Richter seinen Platz mit Herbert Wagner?
Friedrich Boltz: Der offizielle Grund war, dass die Kapläne aus ihrem Selbstverständnis heraus, geistlich tätig und nicht weltlich aktiv zu sein, nicht den Weg der Gruppe gehen wollten – einer Organisation, die ja eindeutig politisch geprägt war. Im Nachgang kann man das immer anders interpretieren. Der Wechsel von Kaplan Richter zu Herbert Wagner war schon nicht mehr zufällig, sondern war der erste Schritt zu einer grundlegende Veränderung der Gruppe.
Portal e.V.: Sie selbst haben ebenfalls die Gruppe verlassen. Wie kam es dazu?
Friedrich Boltz: Das war nicht freiwillig. Vordergründiger Anlass war, dass es ein Schreiben gegeben haben soll, mit allen möglichen persönlichen Vorwürfen gegen mich. Da gab es dann die Empfehlung von Steffen Heitmann, der als Kirchenamtmann die Gruppe juristisch beriet, ich solle ausscheiden um die Gruppe nicht angreifbar zu machen. Als ich darauf nicht einging gab es eine Abstimmung mit schwarzen und weißen Kügelchen, die in einen Hut gelegt wurden. Danach war ich ausgeschlossen.
Aber hinter diesem „offiziellen“ Grund steckte mehr: Ich war nicht passend für den „Wandel“ der Gruppe.
Portal e.V.: Sie glauben, der eigentliche Grund für den Ausschluss lag in ihrer politischen Überzeugung?
Friedrich Boltz: Ich wollte den Schwenk der Gruppe, hin zu einer eigenen politischen Organisation nicht mitmachen. Die Gruppe sollte nach meiner Auffassung Mittler im politischen Dialog sein. So steht es auch in der ersten Erklärung drin, die ich verfasst habe. Meine Grundhaltung war es, die Gruppe nicht als eigenständige politische Kraft zu sehen, dass sollten dann schon andere sein, Parteien, das Neues Forum oder einzelne Personen, die sich politisch artikulieren. Ich sah die Gruppe als Partner im Dialog, als Mittler und Moderator. Und dann war ich auch noch SED-Mitglied, das passte gar nicht.
Portal e.V.: Wie wechselten die Gruppenmitglieder?
Friedrich Boltz: Ich bin der Einzige, der formal ausgeschlossen wurde. Andere sind entweder einfach weggeblieben oder haben erklärt, dass sie nicht weitermachen. Für diese wurde von der Restgruppe ein Ersatz „berufen“. Es hatte dann rasch den Status eines Politbüros: Die Mitglieder bestimmten selbst wer geeignet war und dazukommen durfte. Das widersprach gänzlich der Entstehung der Gruppe aus einer zufälligen Situation heraus. Entweder hätte die ursprüngliche Zusammensetzung beibehalten werden müssen oder die Gruppe auflösen sollen.
Portal e.V.: Wie fühlten Sie sich als Mitglied? Fiel es Ihnen schwer, Verantwortung zu übernehmen?
Friedrich Boltz: Nein, in dieser Situation nicht, da wir im eigentlichen Sinne keine Verantwortung hatten. Die Macht hatte immer noch der Staat. Der Ansatz war es, für unterschiedliche Auffassungen und Lösungsvorschläge Raum zu schaffen. Und natürlich auch für Transparenz zu sorgen und die politischen Gremien zur Rechenschaft zu verpflichten. Fachlich gearbeitet werden sollte in den durch die Gruppe initiierten Arbeitsgruppen oder „Sektionen“. Aber wenig durch die Gruppe selbst und schon gar nicht in einer „Führungsrolle“, sondern durch Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt.
Portal e.V.: Gab es ein bestimmtes Ziel, das die Gruppe verfolgte?
Friedrich Boltz: Da kann ich nur für mich sprechen. Am Anfang bestand meine Motivation hauptsächlich daraus, dass es nicht zu Ausschreitungen kommen sollte. Die Situation war schon sehr unheimlich – mitten in diesem Kessel auf der Prager Straße, umstellt von Polizisten mit Knüppeln, Schilden und Helmen. Solche Bilder waren mir bis dahin nur aus dem Fernsehen bekannt. Dazu dann im Hindergrund noch das Bellen von Hunden.
Ich wollte, dass sich hier in diesem Land etwas verändert, egal was mit mir passiert. Gänzlich außerhalb meiner Vorstellung lag allerdings der Anschluss an die Bundesrepublik. Nicht das ich es bewusst abgelehnt hätte, aber es war gar nicht im meinem Gedankensystem. Ich wollte hier und durch uns Veränderungen aus eigener Kraft.
Portal e.V.: Wissen Sie, ob Sie von der Stasi überwacht wurden? Haben Sie die Akten gesehen?
Friedrich Boltz: Die habe ich nicht eingesehen, aber es ist ein ganzer Teil meiner Stasiakte veröffentlicht, zumindest Auszüge in dem Buch „Die Gruppe der 20“ von Michael Richter und Erich Sobeslavsky. Der IM „Lindner“ hat wahrheitsgetreu und sehr wohlwollend über mich berichtet und auch nicht versucht irgendetwas zu erfinden. Für mich ist das, was ich lese sehr interessant, denn ich stehe noch heute vollständig zu dem was ich damals gesagt habe.
Portal e.V.: Können Sie sich an ein bestimmtes, sehr schönes Erlebnis erinnern, dass typisch war für diese Zeit?
Friedrich Boltz: Die Offenheit der Menschen und wie sie miteinander gesprochen haben. Eines Tages fuhr ich mit dem Zug nach Berlin und da unterhielten sich wildfremde Leute miteinander. Selbst auf der Straße gab es offene Diskussionen. Man begegnete Menschen mit unterschiedlicher Meinung und akzeptierte sie und entwickelte wechselseitig auch mal neue Ideen. Leider gab es für gesellschaftlich Perspektiven überhaupt keinen gedanklichen Vorlauf in dieser zugemauerten DDR. Und mit der Aussicht auf den Anschluss an die BRD war für eigene Denkansätze auch bald kein Raum mehr.
Portal e.V.: Was war für Sie das beherrschende Gefühl im Herbst ’89?
Friedrich Boltz: Befreiung, richtig aufatmen zu können.
Portal e.V.: Hatten Sie zu bestimmten Zeiten Angst? Wann und wovor?
Friedrich Boltz: In den ersten Oktobertagen hatte ich Angst vor Sanktionen, denn was mit den Leuten passiert, wusste ich nicht. Es waren ja lächerliche Vergehen oder normale Verhaltensweisen für die man eine lange Zeit ins Gefängnis hätte gehen können. Das war für mich durchaus sehr beängstigend. In der zweiten Oktoberhälfte hatte ich dieses Gefühl nicht mehr, denn die Bevölkerung im Land war voll euphorischer Aufbruchstimmung. Da hätten schon Panzer und Maschinengewehre zum Einsatz kommen müssen. Die Panzer sind die ersten Tage nicht gerollt und da war uns weitgehend klar, dass das nicht mehr passiert.
Portal e.V.: Wie bewerten Sie die Arbeit der “Gruppe der 20” von heute aus? Hat sie das mögliche erreicht? Würden Sie in der Rückschau in einzelnen Punkten anders handeln?
Friedrich Boltz: Klar hätte ich gern etwas verändert, denn für mich war immer wichtig, miteinander zu kommunizieren, um gemeinsam Lösungen zu finden. Aus heutiger Sicht glaube ich, dass nie die Chance bestand, in der DDR einen eigenen Weg jenseits von Kapitalismus und Realsozialismus zu beschreiten. Insofern hätte die „Gruppe der 20“ auch mit einer anderen Grundhaltung nichts grundlegend anderes bewirken können.
Portal e.V.: Wie haben Sie persönlich die Möglichkeiten der Nachwendezeit genutzt – privat oder beruflich?
Friedrich Boltz: Wichtig ist mir die persönliche Freiheit, die ich jetzt habe. Nach wie vor finde ich die Analysen von Robert Havemann (/Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg)/ und Rudolf Bahro*/ (/*/Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus) /über die DDR und den real existierenden Kapitalismus interessant. Beide beschreiben recht gut nachvollziehbar, dass beide „Systeme“ keine gesellschaftliche Perspektive bieten. Aber anders als in der DDR habe die Möglichkeit, ein Stück weit mein Leben außerhalb dieses Systems als Gegenentwurf zu gestalten. Auch wenn ich mich real weiterhin in dieser Gesellschaft bewege, empfinde ich diese Möglichkeit als sehr befreiend. 1989/90 ist mir aus einer gewissen Sinnkrise heraus klar geworden, dass wir nicht noch mehr „Fortschritt“, technische Entwicklung und Weiterentwicklung benötigen. Aus technischer Sicht sind wir schon längst in der Lage, weltweit alle grundlegenden Probleme zu lösen. Das dies nicht geschieht, liegt an unserer sozialen Unterentwicklung. Ich bin einige Jahre durch die Kommune-Szene Deutschlands und Europas gezogen. Das fand ich sehr spannend, besonders in den Neunziger Jahren, als die Aufbruchsstimmung so groß war. 1997 habe ich mir mit ein paar Leuten einen Hof in der Oberlausitz gekauft, um dort ein Projekt zu gründen, das auch noch existiert und immer mehr zu meinem Lebensmittelpunkt wird – der Holderbusch e. V. in Jänkendorf bei Niesky. Es ist ein Platz mit vielfältigen Möglichkeiten. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Interesse, diese Möglichkeiten auch in die Hand zu nehmen, nicht sehr groß ist. Man kann sich selbst mit dem ominösen Hartz IV doch irgendwie ganz bequem einrichten. Sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten ist aber durchaus mit ein bisschen mehr Anstrengung verbunden.
Portal e.V.: Haben Sie heute noch Kontakt zu anderen Gruppenmitgliedern? Wäre ein engerer Kontakt sinnvoll oder wünschenswert? Warum oder warum nicht?
Friedrich Boltz: Ich habe keinen Kontakt zu anderen Gruppenmitgliedern. Bei der Mehrzahl derer, die später dazu gekommen sind, ist mein Interesse auch außerordentlich gering. Nur in der ursprünglichen Besetzung waren einige Leute, die ich ganz gerne wieder treffen würde, etwa Heiko Pstrong oder Ulrich Baumgart. Bei den meisten „Nachrückern“ kann ich nur konstatieren, dass wir in völlig unterschiedlichen Welten leben und uns auch nichts zu sagen hätten.
2008, geführt von S. Huste und A. Schneider