Informationen zur Person:
- lebte vor der Wende in Loschwitz
- studierte in Leipzig Theologie
- ist seit 1981 Pfarrer der Gemeinde in Loschwitz
- ist geschieden und hat drei Kinder
Portal e.V.: Wie erfuhren Sie von den Ereignissen im Herbst `89 in Dresden?
Dietmar Selunka: Wir waren damals an der Ostsee und machten Urlaub. Dort konnten wir die Bilder über das westdeutsche Fernsehen verfolgen: Wie in Ungarn die Flüchtlinge warteten, und welche Unruhen es gab, wie die Botschaften in Warschau und in Prag besetzt wurden. Ich fuhr dann wieder zurück und trat meinen Dienst an. Im September entstand eine Atmosphäre, in der man spürte, es muss etwas passieren. Im Staatsschauspiel Dresden gab es einen Aufruf, das war eine mutige Sache. Dann kamen schließlich die Ereignisse im Oktober, die auf dem Hauptbahnhof passierten. Es brach über uns herein und wir fragten uns, was geschieht hier? Da war der Sonntagsgottesdienst ein guter Austauschpunkt, dort sprachen sich die Menschen über ihre Erlebnisse und Erfahrungen aus.
Portal e.V.: Nahmen Sie an den Demonstrationen teil?
Dietmar Selunka: Ich bin zurückhaltend gewesen, um in die Stadt zu gehen und an Demonstrationen teilzunehmen. Man hat als Pfarrer eine gewisse Verantwortung. Ich wollte nicht Jugendliche oder andere Leute irgendwo hinein führen, wir wussten ja nicht, welchen Ausgang das nimmt. Schon in den Achtziger Jahren versuchten wir als Pfarrer Formen zu finden, in denen man Protest äußern kann, ohne dabei die Staatssicherheit so herauszufordern, dass sie einen verhaften lässt. Wir suchten etwas, das Zivilcourage bedeutet und denen keinen Anlass zum Einschreiten lieferte. Manche bezeichneten diese Kunst als Taktieren. Doch uns war es wichtig, niemanden ins offene Messer laufen zu lassen. Am 6. zum 7. Oktober war ich an den Demonstrationen beteiligt. Es gab dann auch in unserer Gemeinde Eltern, deren Kinder verhaftet wurden. Danach führten wir eine Gemeindeversammlung ein, auf der man sich austauschen und gegenseitig stärken konnte.
Portal e.V.: Welche Rolle spielten die Pfarrer zur Wendezeit?
Dietmar Selunka: Als Pfarrer riefen mich ständig Leute an, sie brauchten einen Anlaufpunkt, jemanden, dem sie vertrauen konnten. So wurden wir Pfarrer automatisch involviert und haben versucht ein inneres Netzwerk der Kommunikation herzustellen, auch mit der Stadt, so wie Christof Ziemer. Ich erinnere mich besonders an die Gruppe der 20, die am Abend des siebenten Oktober zusammen gesessen hat und die für den nächsten Tag eine große Informationsveranstaltungen in den vier Kirchen organisiert hat. Das war eine tolle Atmosphäre in der Kreuzkirche, die den Geschmack einer völlig neuen Freiheit hatte. Die Leute riefen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!, wie in der Französischen Revolution. Ich habe die Gottesdienste genutzt, um auf dieses Geschehen einzugehen. Bei einer Predigt im Oktober stellte ich die Führungsrolle der SED in Frage. Heute wirkt das lächerlich, aber damals war es ganz unwahrscheinlich. Die Menschen äußerten sich, wie sie es in der Öffentlichkeit nie getan hätten. Ich habe versucht, in der Gemeinde ein Mensch zu sein wie ein Pfarrer es sein sollte. Ich wollte für alle Notfälle und Probleme, die auftreten konnten bereit sein. Selbst mit den Staatsvertretern der DDR führten wir regelmäßig Gespräche. An die Öffentlichkeit kam das aber nie, das war ein geschlossener Raum. Gerade war Erich Honecker von Egon Krenz abgelöst worden. An die deutsche Einheit haben wir damals aber noch nicht gedacht.
Portal e.V.: Wie erlebten Sie die Entmachtung der Stasi in Dresden?
Dietmar Selunka: Im Dezember wurde die Stasi friedlich entmachtet, das war ein sehr wichtiger Vorgang, auf den wir lange gewartet hatten. Mit dem Ausschalten dieser Zentrale wurde bei den Menschen ein ganz großer Angstfaktor beseitigt. Man wusste nie, wie die Stasi reagieren wird. Der Stellvertreter von Herrn Genscher, Wolfgang Mischnick, wollte bei einem Besuch in Dresden, unbedingt mit Leuten von hier Kontakt aufnehmen. Schließlich saßen wir abends mit ihm in einer Privatwohnung, und wir diskutierten darüber, wo das alles noch hinführen sollte. Aber wir redeten nie von einer Deutschen Einheit, das war alles später ein Projekt im Rahmen Europäischer Einigung.
Portal e.V.: Welchen Erfolg hatten Ihre Fragebögen, die Sie entwickelten?
Dietmar Selunka: In den Dezembertagen entwarfen wir einen Fragebogen über die Zukunft der DDR, Deutschlands und Europas. Es gab zum Beispiel folgende Fragen: Wie stellen sie sich die Einheit Deutschlands vor, bald, oder in den nächsten Jahren? Oder in einem europäischen Rahmen, in zehn oder fünfzehn Jahren? Die Fragebögen legten wir überall aus und fragten die Verkaufsleiter, ob sie damit einverstanden wären, denn alle hatten noch Angst. Wir merkten aber im Januar, dass unsere intellektuellen Gedanken längst überholt waren, denn die Stimmung schlug um, in Richtung Deutsche Einheit. Wir hatten viel zu lange gezögert und die Fragen vorsichtig formuliert. Es ist allgemein bekannt, das viele Leute der DDR, die sich politisch engagiert hatten, zunächst nicht an die Deutschen Einheit geglaubt haben. Das war eine Sache des Volkes.
Portal e.V.: Sind auch Pfarrer von der Stasi überwacht worden?
Dietmar Selunka: Ja, in unterschiedlicher Weise. Manche Pfarrer wurden mehr, manche weniger überwacht. Ich habe gerade jetzt meine Unterlagen einsehen können. Es steht nur das übliche drin, wie die Besuche, die ich aus Westdeutschland bekommen habe. Aber ich bin nicht überwacht worden. Was mich sehr überrascht und zugleich freut ist, dass auch keiner aus unserer Gemeinde dafür gearbeitet oder Informationen geliefert hat. Als ich von 1981 als Pfarrer hier anfing, gründeten wir einen Ehepaarkreis von circa 50 Leuten. Es war von Anfang ein offener Gesprächskreis, da wurde über Literatur gesprochen und es wurden Vorträge gehalten. Es war eine tolle Atmosphäre, und jeder konnte sagen was er wollte. Da hatte ich nie Ängste.
Portal e.V.: Dabei haben Sie schon in den Achtziger Jahren einen Brief an Erich Honecker geschrieben. Wie war das?
Dietmar Selunka: 1983 sagte ich, dass wir etwas unternehmen müssen, als die Russen die Raketen aufstellten und sie neu nachrüsten wollten. In Deutschland und Europa lebten die Menschen in furchtbarer Angst, denn die Raketen standen nun ganz nah, in Bischofswerda und hinter der Grenze. Darauf hin verfassten wir einen Brief an die Regierung und an Erich Honecker, in dem wir ihm mitteilten, dass die Menschen Angst haben und man nicht einfach weiterrüsten sollte, man muss irgendwo aufhören und einseitig eine Vorleistung bringen. Honecker hatte sich vorher in Helsinki gebrüstet, dass er Staatsmann sei. So hielten wir ihm positiv seine Äußerung vor, es müsse eine Sicherheitspartnerschaft geben und nicht jeder solle gegen jeden kämpfen. Acht Leute aus unserer Gemeinde unterschrieben diesen Brief mit großem Bangen, da wir befürchteten, eine Woche später in unserem Betrieb Schwierigkeiten zu bekommen. Aber wir waren bereit das Risiko einzugehen. Wir schickten den Brief montags los und schon am Freitag erhielten wir in unserer Kanzlei einen Anruf der Kanzlei des Staatsratsvorsitzenden. Er wollte wissen, welche Namen das wären, denn man könne sie nicht erkennen. Damals saß unser Lehrling am Telefon, eine junge Frau, und sie teilte ihm alle Namen mit. Später erfuhren wir, dass Honecker veranlasst hat, den Brief zu veröffentlichen. Das war für uns ein großes Erlebnis in der DDR. Mit größter Verwunderung bekamen wir Briefe aus ganz Europa und Deutschland. Viele waren perplex, dass wir diesen Mut aufbrachten. Selbst die CDU fragte uns, wie wir das gemacht hätten und unterstellten uns gleichzeitig, es sei eine ausgemachte Sache gewesen. Dabei hatte sich Honecker wahrscheinlich nur in einem positiven Licht gesehen, denn wir klagten ihn ja nicht an. Wir hätten auch protestieren können, aber damit hätten wir nichts erreicht. Es war uns gelungen, in diplomatischer Sprache an Herrn Honecker zu schreiben. Der Brief ging durch alle Türen, in vielen Schulen und selbst bei der Partei heftete man ihn an die Wandtafel. Das war eine tolle Sache, denn wir hätten nie geahnt, dass es so gut ausgehen wird, da wir immer mit dem Gedanken spielten, verhaftet zu werden.
Portal e.V.: Haben Sie sich über den Brief hinaus für die Friedensbewegung stark gemacht?
Dietmar Selunka: Wir haben 1983-84 ein dauerhaftes Tag-und-Nacht-Gebet eingerichtet und nannten es Friedensgebet. In der Heiligkeitskirche beteten wir 16 Tage lang für den Erfolg der Verhandlungen zwischen den Russen, den Amerikanern und der Nato. Das war sehr beeindruckend für die Stadt, weil plötzlich viele Menschen einen Ort hatten, an den sie ihre Hoffnungen und ihre Ängste tragen konnten. Das waren so kleine Bausteine des Widerstands in der DDR.
Portal e.V.: Wurden die Kirchen damals häufiger besucht als heute?
Dietmar Selunka: Es hat sich relativ verändert. Bei uns war damals eine besondere Situation. Zu dieser Zeit gab es keine Kirche, wir hatten nur unser Gemeindehaus in der Grundstraße. In diesen Saal gingen nicht so viele Menschen hinein, es war kein attraktiver Raum. In den Neunziger Jahren bauten wir unsere Kirche wieder auf und seither kommen mehr Menschen.
Portal e.V.: Welche Erwartungen hatten Sie damals? Haben diese sich erfüllt?
Dietmar Selunka: Ich hatte den Traum, wie jeder andere Mensch auch, von einem idealen Sozialismus, von einer Chance, die Gesellschaft neu zu formieren. Marx hat in seiner Entwicklung des Sozialismus und Kommunismus durchaus ganz viele christliche Ideale aufgenommen. Aber die Menschen waren damals noch nicht bereit, sich auf etwas Neues einzulassen. Der Sozialismus war abgelebt, man konnte das Wort nicht mehr verwenden, es war einfach verbraucht. Und die Masse der Menschen war nicht bereit, weiter mit zu gehen. Ich hatte 1989 keine konkreten Erwartungen, aber ich hatte schon zu DDR-Zeiten große und tiefe Hoffnungen, Deutschland als ein Land zu erleben. Manchmal habe ich über den Heinevers gesprochen: Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht! Das wurde von Heine ausgesprochen, allerdings über eine andere Situation, aber auch über die Zersplitterung des Landes. Wir haben das, was eingetreten ist, versucht anzunehmen, zu akzeptieren und mitzugestalten. In gewisser Hinsicht bin ich Realist geworden. Ich gehöre nicht zu denen, die jetzt den Traum einer solchen Gesellschaft aufrecht halten, weil ich sehen musste, dass wir Menschen nicht in der Lage sind, die Sache wirklich zu erfüllen. Man kann es immer vom Anderen verlangen, aber selber ist man nicht bereit. In die Gesellschaft, in der wir heute leben, sind wir alle unwahrscheinlich stark involviert – in Positives, aber auch in Aktivitäten, in denen die Welt zerstört wird. Wir kaufen Produkte, die in anderen Ländern für billiges Geld hergestellt werden, daran klebt das Blut von Kinderhänden. Bevor wir etwas abschaffen, sollten erst wir uns verändern. Doch das ist schwierig, das macht niemand.
Portal e.V.: Wirken manche Ereignisse heute noch nach?
Dietmar Selunka: Kaum, nur wenn man darüber spricht, kommen viele Sachen wieder hoch. Aber mittlerweile ist schon eine lange Zeit vergangen, fast zwanzig Jahre. Das ist eine sehr viel größere Zeit meines Dienstes als zu DDR-Zeiten. In den zwanzig Jahren hat sich so viel verändert und unser Leben wurde davon geprägt. Wir sind zwar der Osten, aber trotzdem der Westen. Wir haben die Kirche wieder aufgebaut und in der Kirchgemeinde durch diese Revolution ganz Positives erlebt. Bedauerlich finde ich nur, dass viele Menschen in einer bestimmten nostalgischen Weise auf die DDR zurück schauen und denken, damals war alles besser. Die haben viele schlimme Erinnerungen vergessen. Es stimmt, dass es damals keine Arbeitslosen gab. Aber wenn man früher in den Betrieb ging und sich die Frage stellte: ‚Was machen wir heute?’ oder ‚Was für ein Buch lesen wir?’ und dafür noch ein hohes Gehalt bezog, konnte das über Jahre hinweg nicht funktionieren. Die DDR-Nostalgie halte ich für ganz schwierig und problematisch. Doch diese Zeit war für mich ein wichtiger Teil meiner Lebensgeschichte und diese lasse ich mir auch von niemandem rauben.
Portal e.V.: Kannten Sie Menschen, die zu flüchten versuchten oder hatten Sie eigene Pläne?
Dietmar Selunka: Für mich stand es nie zur Debatte, nach drüben zu gehen, da ich an die Gemeinde gebunden war. Aber viele in meiner Generation hatten schon den Gedanken erwogen auszureisen, und einige sind auch gegangen. Ich unterstützte sie, denn es gab Möglichkeiten, die Ausreisekandidaten in unserer Gemeinde einzustellen, als Handwerker oder auf dem Friedhof. Manchen riet ich ganz davon ab. Ein Freund kam damals zu mir und fragte mich, was ich davon halten würde, wenn er nach drüben ginge und wie er es am besten anstellen könnte. Ich hatte eine andere Idee und schlug ihm vor, bei uns in der Gemeinde zu arbeiten . Das hatte ihn offensichtlich so sehr betroffen, dass er das Angebot annahm. Und nun ist er sehr froh darüber, dass er damals geblieben ist. Dass so viele gingen, war für mich nur schwer nachzuvollziehen, aber als Pfarrer war man auch geschützter. Ich musste nie diesen Leidensdruck und die Repressalien selbst erleben. Viele hielten es nicht mehr aus und wollten nur noch weg. Viele kamen her, um sich zu beraten. Es gab Ausreiswillige, die ganz dringend warteten, darunter auch Ärzte und viele tolle Menschen. Um sich zu treffen, schloss ich immer sonntags heimlich das Gemeindehaus auf. Selbst ein paar meiner Bekannten nahmen die Strapazen auf sich und sind durch die Donau geschwommen. Als sie in Regensburg ankamen, hieß es, die Grenzen seien geöffnet. Es tat mir sehr leid, da sie sehr viel auf sich genommen hatten und dann plötzlich alles vorbei war. Ich bin froh, wenn Menschen wieder kommen. Man sollte sie herzlich aufnehmen, denn bei vielen ist das mit einer gewissen Scham verbunden, erst nach drüben zu gehen und dann zu merken, dass man dort nicht zurecht kommt.
Portal e.V.: Wie bewerten Sie die Wende aus heutiger Sicht?
Dietmar Selunka: Es hat noch nie in der Geschichte so ein Ereignis gegeben. Ich bin dankbar, Zeitzeuge gewesen zu sein einer solch friedlichen Wende – und das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, das sich nun zu einer Union gebildet hat. Generationen vor uns haben davon geträumt, dass man von einem Land zum anderen reisen kann, ohne angehalten zu werden. Es ist nicht selbstverständlich dass es so bleibt, man muss darum kämpfen und ringen. Natürlich gibt es große soziale Probleme, die wir bewältigen müssen, doch viel schlimmer wäre es, wenn man nationalstaatlich denken würde. Wir befinden uns in einer Generation, die dem Menschen Dinge bietet, die ihm noch nie gewährt worden sind.
2008, geführt von S. Huste und A. Schneider