Portal e.V.: Was können Sie zu den Geschehnissen 1989 als damaliger Student der TU Dresden berichten?

Stefan Schönfelder: Ich war Ende der 80er Anfang 20, hatte aber schon länger vor 1989 das Gefühl, dass sich irgend etwas gravierend verändern wird. Wir haben damals nicht an Wiedervereinigung gedacht, sondern an Veränderungen innerhalb der DDR. Die ersten Veränderungen spürten wir, als an der Uni plötzlich der Sputnik verboten wurde etc. Es ging immer um politische Veränderungen, das zeigten die vielen Verbote und die dadurch entstehenden Auseinandersetzungen – das war die Vorbereitung auf die Veränderung im Land. Die Umweltpolitik der DDR beschäftigte mich sehr, die Gruppe, der ich an der TU Dresden angehörte, die TU-Umweltinitiative, hatte Kontakte zu kirchlichen Umweltgruppen. Daneben war ich konfrontiert mit Diskussionen, ob man bei abweichenden politischen Einstellungen ein Leistungsstipendium bekommen darf. Diese Zeit der beginnenden politischen Wachheit war gleichzeitig eine der wachsenden Ablehnung der Regulierungs- und Unterwerfungsstrategien der kleinen und größeren DDR-Machthaber.

Als ich Mitte 89 aus Rumänien vom Urlaub zurückkam, bemerkten wir plötzlich, dass die Grenze offen ist. Wir haben dann zunächst eine kurze Zeit im Rahmen des Studiums in Grimma in einer Gruppe zusammengearbeitet und heftig diskutiert. Mitte September ´89, als wir an die Uni zurückkehrten, begannen dann sofort heftige Diskussionen, z.B. über die zukünftige Rolle der FDJ, wie viel Zwang dahinter sein muss, wie viel Regulierung, ob es andere Vertretungsstrukturen geben muss und kann, wie frei man diskutieren kann, wer was vorschreibt.

Portal e.V.: Wie war Ihre konkrete politische Einstellung in dieser Zeit, waren Sie auch Mitglied der SED?

Stefan Schönfelder: Nein, ich war kein Mitglied der SED. Ich würde sagen, ich befand mich in einer sanften Opposition. Mir war dieses Gesellschaftssystem der DDR, der Anspruch der SED, sich ihrem System ganz unterwerfen zu müssen, richtig unangenehm. Man lebte eben in der DDR und arrangierte sich im Alltag, obwohl man wusste, dass der Staat die Bevölkerung belügt. Man beschäftigte sich mit Umweltproblemen in dem Bewusstsein, dass der Staat Daten geheim hält, nicht offen mit seinen Bürgern umgeht. Ich hatte eine sehr starke und kritische Haltung dazu entwickelt, aber da ich ja erst 23/24 Jahre alt war, also noch relativ jung, hatte ich noch nicht so große Pläne, man hatte eine kritische Haltung dazu, ohne gleich zu wissen, wie das alles anders gehen könnte.

Portal e.V.:Hatten Sie mal Berührung mit der Stasi 1989?

Stefan Schönfelder: Wir sind in jedem Fall als Umweltgruppe, als Kommilitonen im Wohnheim, später in unserer WG Dresden-Pieschen überwacht worden. Es gab sicher Berichte über jeden, ob nun wichtig oder eher unwichtig. Meine Akte habe ich nicht bekommen auf Antragstellung, warum auch immer. Als ich sie anforderte sagte man mir sie sei nicht mehr vorhanden. Ich nehme an, dass meine Akte in der Wendezeit vernichtet worden ist. Jedoch von den Leuten mit denen ich zusammen im Wohnheim gewohnt habe und mit denen ich in der studentischen Umweltinitiative organisiert war weiß ich, dass viele Berichte existierten. Das wusste und ahnte man. Wir hatten aber 1988/89 keine Lust uns deswegen zu beschränken, wir sahen uns von den kirchlichen Gruppen eine Haltung ab, möglichst angstlos zu leben und zu reden. Allerdings hatten wir auch wenig Gefährliches zu verbergen. Ich kann nicht sagen, dass ich damals von engeren Freunden bespitzelt worden bin. Ich weiß es nicht und glaube es auch eher nicht.

Portal e.V.: Was haben Sie bei den Demonstrationen am Bahnhof oder andere  in Bezug auf Gewalt und Polizeieinsätze erlebt?

Stefan Schönfelder: Komischerweise hatte ich gar keine Angst. Im Nachhinein, wenn man gelesen hat was tatsächlich alles passiert war, dann konnte man sich schon vorstellen, dass man vielleicht verhaftet oder verprügelt wird oder ewig eingesperrt werden könnte. Ich war nicht besonders mutig oder verwegen, habe immer versucht am Rand zu bleiben, um nicht eingekesselt zu werden. Die Gefahr war ja überall groß, da mit rein zu geraten. Von Schlägereien zwischen Zivilisten und Polizisten habe ich gehört aber nichts selbst miterlebt. Ich kann mich noch erinnern, dass ganz am Anfang der Ereignisse am Bahnhof von Dresden, als die ganzen Wasserwerfer auffuhren, dass die Polizisten mit großen Schilden und Knüppeln und Helmen aufliefen. Das kannte man ja vorher gar nicht. Der Wasserwerfereinsatz am 4. Oktober in Dresden war Gewalt, aber von Prügel und Misshandlungen bei Gefangennahmen etc. können andere berichten, ich nicht. Ich hatte zwar – eher aus Naivität – keine Angst, verhielt mich aber vorsichtig. Dass Polizisten mit Steinen beworfen wurden weiß ich, ich war in der Nähe und kann mich erinnern, dass ich da eingeschritten bin, diese Gewalt war mir auch suspekt. Ich habe auch miterlebt dass Polizisten von Bürgen eingekesselt wurden und Ihnen wurden Pfennige aus den Geldbörsen entwendet, die man den Polizisten dann vor die Füße warf mit den Worten „Ihr gekauften Groschen-Jungs!“ Da konnte man seine Wut ein wenig abreagieren, ohne zu prügeln. Ich war dann an den Folgetagen in Dresden und einmal Leipzig auf Demonstrationen. Am 9. Oktober sind wir nach Leipzig gefahren, kamen aber erst abends an, da war die Demo bereits am Ausklingen. Die Polizei war überall präsent, Gewalt habe ich aber dort nicht erlebt.

Portal e.V.: Wie ist Ihre ganz persönliche Haltung zu dem damaligen und heutigen  Gesellschaftssystem?

Stefan Schönfelder: Mit dem heutigen Gesellschaftssystem, um damit zu beginnen, bin ich nicht zufrieden. Man findet immer etwas zu verbessern. Aber das ist ein grundsätzlicher Unterschied zur DDR: Ich habe die DDR als sehr unfrei empfunden, dieses Duckmäusertum, sich immer anpassen müssen, zu Hause anders reden als in der Öffentlichkeit, nicht frei seine Meinung sagen zu können. Diese verlogenen Diskussionen, dass man immer nicht sagen konnte „Ich finde das blöd oder ich will das anders haben“. Selbst wenn man Kleinigkeiten durchsetzen wollte, musste man sich immer selbst belügen, um eine Möglichkeit zu finden, sich durchzusetzen. Diese ständige Aufforderung zur Unterwerfung unter die Machtstrukturen und zum Bekenntnis zu Staat und Partei in der Schule, von den Lehrern, weil dir sonst Entwicklungsmöglichkeiten, Studium verwehrt wurden. Sonst konnte man sich eben nicht entwickeln und nichts bekommen, wenn man sich nicht System konform bewegte. Das fand ich wirklich sehr extrem, zum Teil sogar widerlich.

Portal e.V.:Was waren für Sie die wichtigsten Veränderungen nach 1989?

Stefan Schönfelder: Ganz unmittelbar für uns an der Uni waren die Auflösung der parteinahen Strukturen, die Auflösung der FDJ und die Etablierung eigenständiger und vielfältiger studentischer Vertretungen an der Uni ersichtlich und wichtig. Zum zweiten entwickelte sich aus Umweltvereinen, wie es auch einen an der TU Dresden gegeben hatte eine eigenständige Organisation. Im November´89 war ich in Berlin, als die Grüne Partei der DDR gegründet wurde, bin an diesem Wochenende in eine Arbeitsgruppe gegangen, die die Gründung und den Aufbau des Verbandes der Grünen Liga vorbereitet hat, die Anfang Februar 1990 gegründet wurde. Ich habe mein Studium zu Ende gebracht, nebenbei den Aufbau der Grünen Liga begleitet und mich nach dem Studium ausschließlich der Arbeit der „Grünen Liga“ gewidmet. Das hatte auch zur Folge, dass ich tatsächlich nach meinem Studium nie als Architekt gearbeitet habe, sondern mich in den Folgejahren bis 1997 ausschließlich der Umweltbewegung in Sachsen gewidmet habe.

Portal e.V.:Denken Sie, dass es eine Form der Überwachung heute noch gibt?

Stefan Schönfelder: Natürlich gibt es auch heute Geheimdienste und es gibt viele Formen von Überwachung, aber das sind heute ganz andere Dimensionen. So ein riesiges, flächendeckendes, repressives, staatliches und zentral gesteuertes, ideologisch begründetes System wie die DDR das hatte, gibt es nicht mehr. Heute geht es um andere Dinge: Um staatliche Datensammelei wie bei den Mautdaten oder den Telekommunikationsdaten, um Überwachung von öffentlichen Plätzen und Orten z.B. durch Privatunternehmen wie die Deutsche Bahn, Shopping-Malls etc. und natürlich die Überwachung von Straßen und Plätzen durch die Polizei per Video und ähnliches. Hier werden Bürgerrechte eingeschränkt, aber ich habe überhaupt erstmal Bürgerrechte, ich habe Möglichkeiten, das zu erfahren und mich zu wehren. Also gibt es doch grundsätzliche Unterschiede zum Spitzelapparat der DDR.

Portal e.V.: Ich würde ganz zum Schluss noch kurz eingehen auf die in Ihrem Portal präsentierte Broschüre „Das reicht für zwei Leben“ eine Textsammlung von Leuten aus ganz Deutschland über die Wende Zeit und die dazu erfolgte Lesung im Staatsschauspiel. Haben sie an der Erarbeitung des dort verwendeten Fragen-Katalog mitgewirkt und wie?

Stefan Schönfelder: Es war eine Kooperation zwischen dem Staatsschauspiel, dem Sandstein Verlag und uns und ging auf Ereignisse in der Wendezeit selbst zurück, bei denen die Schauspieler und Mitarbeiterinnen des Staatsschauspiels Dresden „aus ihren Rollen getreten“ waren und politische Äußerungen und Aufrufe von der Bühne gesprochen hatten. Nun sollten Dresdner Bürgerinnen und Bürger befragt werden, wann und wie sie in und nach der 89er Wende aus ihren Rollen getreten sind. Wir haben gemeinsam diese Fragen ausgearbeitet. Das Staatsschauspiel hat dann die Arbeit der Ausschreibung, Textsammlung und –Überarbeitung gemacht. Die ausgewählten Texte wurden von den Schauspielern in einer Abendveranstaltung vorgetragen und mit dem Publikum diskutiert. Daraus ist dann die Broschüre entstanden.

2008, geführt von R. Wilde